Frische Rosen hängen vom stählernen Zaun, den die Sicherheitsbehörden um die laute Baustelle auf dem Ground Zero aufzogen. Daneben haben Menschen Briefe an die Drahtmaschen geheftet, adressiert an ihre Verwandten und Freunde, die am 11. September 2001 bei den Angriffen auf das World Trade Center ihr Leben liessen. Seit heute aber hängen da nicht nur mehr Rosen und Briefe. Zeitungsartikel und Frontseiten wurden an den Zaun gekleistert. Artikel über die Erschiessung von Osama Bin Ladin. „Rott In Hell“, „How We Got Him“ oder „Victorious Seals Kill Osama“ steht da in fetten Lettern geschrieben. Und während hunderte von Arbeitern hinter den Zäunen am Freedom Tower arbeiten, der dereinst ein Museum zum Gedenken an die Opfer des Elften Septembers beheimaten soll, breitet sich der still hingekleisterte Hass langsam über die Zäune aus, lässt die Rosen und Briefe erblassen. Wut macht sich breit, Siegesgewissheit und Stolz. Es war ein wahrlich wirrer Anblick, heute, zwei Tage nach der Erschiessung Bin Ladins am Ground Zero zu stehen und live mitanzuschauen, wie Amerika auf die Beseitigung des Top-Terroristen reagiert.
Doch, am Ground Zero sind wir noch gar nicht. Wir sind rund 1500 Meilen südlich, in den dichten Tropen-Wäldern Georgia’s, inmitten von Mückenschwärmen, Lianen, wilden Pferden und moosbehangenen Eichen. Vom südlichen Georgia nach NYC: hop on and enjoy the ride…
Wer an Georgia denkt, dem kommt – wenn überhaupt etwas – wohl gerade mal Ray Charles mit seinem Ohrwurm „Georgia on my Mind“ oder eine protzige Plantagen-Villa in den Sinn. Dass Georgia aber wunderschöne subtropische Wälder, kilometerlange Strände oder von Klapperschlangen „eroberte“ Schlossruinen aus dem 19ten Jahrhundert bietet, das wissen die wenigsten. Nun, wir wissen das jetzt, dank unserem dreitägigen Abstecher auf die Cumberland Island, ein der Georgia-Küste vorgelagerter Nationalpark, den man nur per Fähre und nur mit einer Voraus-Reservation erreicht. Wir campierten unter dem schattigen Blätterdach der riesigen „Kletter-Eichen“, übten uns an den menschenleeren Weltklass-Stränden im Bodysurfen, wurden von einem Waschbären unseres Apfelkuchens beraubt, sahen wilde Pferde, die im Abendlicht dem Meer entlang trabten, kämpften uns mit geliehenen Fahrrädern über die sandigen Pfade der Insel und genossen die entspannende Ruhe, die über der wunderschönen Insel liegt…
Auf Reisen mit einem „diplomierten“ Historiker kommt man nicht drumrum, auch mal in verschlafenen Nestern Halt zu machen, die ausser Civil War-Vergangenheit und alten Häuserfassaden nicht allzuviel zu bieten haben. Charleston, wenn man ganz ehrlich ist, ist eines jener Nester, das sich für die Touristen hübsch in kriegerische Robe schmeisst und einem seine Sklavenhandel- und Bürgerkriegs-Vergangenheit in mässig guten Museen auftischt. Wir gönnten uns den Spass, liessen uns durch die Aiken-Rhett Villa (Stadtresidenz des Sklavenhalters Governor Aiken) führen, schauten uns auf einer Hafenrundfahrt Fort Sumter (wo vor genau 150 Jahren die ersten Schüsse des amerikanischen Bürgerkriegs fielen) an, spazierten den alten Herrenhäusern an der Rainbow Row entlang, beschmutzten uns im „Sticky Fingers BBQ Restaurant“ die Hände und warfen einen Blick in jene Markthallen der Stadt, wo bis Ende des 19ten Jahrhunderst Sklaven feilgeboten und verkauft wurden. Besonders spannend war unser Ausflug auf die Boone-Hall Plantage ausserhalb der Stadt, die zu den grössten sklavenhaltenden Plantagen der USA zählte und heute auf spannenden Führungen zur Sklavenkultur, durch das mächtige Herrenhaus oder durch die weiten Felder des Ackerlandes erkundet werden kann…
1) Die Aiken-Rhett Villa mit ihren grauen, vorgelagerten Sklavenquartieren, 3) der ehemalige Sklavenmarkt von Charleston, 7-9) die Boone-Hall Plantage, auf der bis zu 900 Sklaven harte Feldarbeit verrichten mussten. Michelle Obama’s Urgrossvater arbeitete als Sklave auf einer benachbarten Plantage…
Der Osterhase schaffte es bis in unser schmuddliges Rodeway Inn-Zimmer. Zum „Oschter-Zmorge“ gabs guten Kaffee und American-sized Bagels…
Charleston war unser vorläufig letzter Halt an der Atlantik-Küste. Wir verliessen die einst so kriegerische Kleinstadt und machten uns auf nach Spartanburg im nordwestlichen Ecken South Carolinas. Von Spartanburg steht garantiert nichts in den Reiseführern. Die Kleinstadt hat neben der üblichen „Crust“ von Fastfood-Restaurants, Billighotel-Ketten und XXL-Supermarkets (mehr zur „Crust“-Kultur, den „Crustcrawlers“ und unseren „Crustcrawling“-Erfahrungen folgt…) nicht viel zu bieten. Doch in der Crust, da gab es einen Discount Tire Shop, der uns gratis den vorderen linken Reifen reparierte, der kurz zuvor von einer langen, rostigen Schraube durchstochen wurde und zu platzen drohte. Hoffen wir, die Rostschraube bringe dem Teufels-Gefährt Glück. Ich habe nämlich kein Lust, weiter Reparaturgeld in den klappernden Subaru zu pumpen…
Kurz nach Spartanburg bogen wir auf den Blue Ridge Parkway ein, der auf knapp 500 Meilen durch die Carolinas und die Virginias hinauf zum Shenandoe National Park führt. Waldige Hügel prägen die Landschaft, die wir auf unserem kurvigen Roadtrip durchstreiften. Neben allerlei White Tail Hirschen, Schildkröten und Tausendfüsslern (einer von ihnen hat mich auf eine Idee gebracht, der Grundstein für meinen nächsten grossen Traum ist sozusagen gelegt…) bot uns die Fahrt entlang dem Blue Ridge Parkway dramatische Himmels-Szenen, Wolkentürme und beängstigende Stürme, die unser Zelt des Nachts aufs äusserste herausforderten und uns am darauffolgenden Morgen beruhigt aufatmen liessen. Der Parkranger am Camping-Eingang erzählte uns von den schweren Schäden, die die Tornados im Shenandoe-Valley in der Nacht angerichtet hatten. Wir konnten wohl von Glück reden, dass unser Zeltplatz in den Shenandoe Wäldern nur vom Rand der Tornados durchgeschüttelt wurde und vom berüchtigen „eye of the storm“ verschont blieb…
Auf einem Abstecher schauten wir uns die „Natural Bridge“ an, ein angeblicherweise von einem Fluss in die Felswand gemeisseltes Riesen-Loch, das von lokalen Indianer-Stämmen „verwaltet“ wird und für knapp 20 Dollar pro Person durchwandert werden darf. Die Indianer haben da laut unserer Überzeugung massiv geschummelt. Ihre Geschichte vom kleinen Fluss, der über Jahrtausende in beständiger Kleinstarbeit ein Loch in den Felsen frass, glauben wir jedenfalls nicht. Das Riesenloch im Fels sieht ganz und gar nicht so aus wie die Natural Bridges, die man sich etwa in Arizona oder Utah anschauen kann. Viel mehr scheint es, als ob da von Menschenhand nachgehofen worden wäre. Und, dass – wie die Indianer behaupten – George Washington als Präsident der USA die Felswand unter der Natural Bridge raufgeklettert sei, um seine Initialen in Stein zu meisseln, das kaufen wir den abzockenden Eingeborenen genau so wenig ab. Ha, uns habt ihr mit euren Geschichten nicht gekriegt!
Lohnenswert war der Abstecher zu den Luray Caverns, die uns mit märchenhaften Stalaktiten und Stalagmiten (ich erinnere mich an eine Tageswanderung durch das Muotataler Höllloch, auf die mich mein Götti vor einigen Jahren mitnahm und auf der uns der Guide eine nicht ganz jugendfreie Eselsbrücke zu den beiden Kalk-Formationen mit auf den Weg gab…) uns unterirdischen „Spiegel-Seen“ begeisterten. Die Luray Caverns lohnen sich, trotz den mürrischen Guides, die einen im Schnellzugstempo durch die Höhlen hetzen…
Nach einer stürmischen Nacht im Shenandoe National Park trippten wir gespannt in die Landeshauptstadt. Washington D.C.; geballte Macht, Politische Extravaganz und Obamania, das haben wir gesucht und gefunden. Geballte Macht strahlt das Weisse Haus aus, das mitten im Herzen der Stadt liegt und von demonstrierenden Syrern, Ivoren, Anti-Atomwaffen-Aktivisten und fotografierenden Touristen umgeben ist. Hätten wir gewusst, dass Obama, als wir vor seiner Haustür standen, entschied, Osama Bin Ladin per Erschiessungskommando aus der Welt zu schaffen; es wäre fast ein historischer Moment gewesen. Doch, davon wussten wir nichts, und so standen wir ahnungslos vor den hohen Zäunen, warfen aus der Ferne einen Blick auf Michelle’s Gemüsegarten und wandten uns etwas demütig wieder ab von der schönen Stadt-Villa, in der die Fäden dieser Welt gezogen und die Stricke geschnürt werden. Politische Extravaganz und historische Selbstüberschätzung strahlt die National Mall aus, der etwa zwei Kilometer lange und 200 Meter breite Grasstreifen, der sich mitten durch das urbane Zentrum zieht und mit zahlreichen Kriegsdenkmälern und Mega-Museen gespickt ist. Kriege scheinen dem Selbstverständnis der Amerikaner besonders gut zu tun. Überall wird man an die glorreichen Taten der Vereinigten Staaten in den Kriegen dieser Welt erinnert. Zuweilen wirkt das fast schon arrogant. Dann etwa, wenn das Kriegsdenkmal zum „World War II“ von dicken Säulen umgeben ist, die für die 50 Staaten der USA stehen. Stolz weht die amerikanische Flagge über dem Denkmal. World War II, 1941-1945 steht in Stein gemeisselt geschrieben, und im Schatten der riesigen US-Säulen plätschern leise zwei kleine Springbrunnen, auf denen „Western Europe“ und „Central Europe“ zu lesen ist. Nur dass man nicht vergisst, dass diese Regionen neben der fantastisch agierenden amerikanischen Übermacht im Zweiten Weltkrieg ja auch eine winzig kleine Rolle spielten.
Ein paar Stunden später zauberte uns ein älteres Schweizer Reise-Paar, das wie wir vom Turm des alten Post Office herab auf die geballte Kriegsdenkmal-Macht der National Mall blickte, ein breites Grinsen aufs Gesicht. Die beiden Schweizer, kaum auf dem Turm angekommen, schauten kurz auf die National Mall runter, wandten sich wieder ab und meinten: „Huere dräckigi Schiibe of dem Torm, he?!“ Ein Kommentar, der angesichts des in Stein gemeisselten amerikanischen Kriegs-Fanatismus treffender kaum hätte sein können…
1) Washington D.C.’s Autonummern enthüllen einen interessanten Aspekt der amerikanischen Hauptstadt: der Slogan „Taxation without Representation“ deutet auf den Umstand hin, dass die Hauptstädtler zwar wie alle Amerikaner Steuern zahlen, aber unverständlicherweise kein Recht auf Repräsentanten im Nationalen Parlament haben und bei den Präsidentschaftswahlen nicht teilnehmen dürfen. 6) Das wohl weltberühmte Lincoln Memorial, in dem der 1865 ermordete amerikanische Übermensch gefeiert wird. 9) Das Memorial zum Zweiten Weltkrieg mit dem „Western Europe“ Springbrunnen im Schatten der mächtigen US-Säulen. 11) Michelle Obama’s Gemüsegarten…
Pennsylvania, die einstige Quaker-Kolonie, die vor rund dreihundert Jahren Siedler mit dem Versprechen lockte, alle religiösen Vorstellungen zu tolerieren, ragt mit seiner südöstlichen Spitze ins weite Land zwischen D.C. und New York City. Eine der religiösen Minderheiten, die Ende des 18. Jahrhunderts den weiten Weg aus dem alten Europa in die neue Welt auf sich nahm, um in Pennsylvania ein neues Leben als Farmer zu beginnen, waren die Anabaptisten unter der Führung von Jakob Ammann. Vertrieben wurden sie nicht etwa von den Franzosen oder den Engländern, sondern von den Eidgenossen, die sich nicht länger mit den frevelhaften Ketzern abgeben wollten und die Anabaptisten aus dem Appenzell und dem Berner Oberland rausschmissen. In Pennsylvania angekommen formierten sich die Anabaptisten neu, nannten sich „Amish People“ und leben heute noch fast genau gleich wie damals. Dies, jedenfalls, behaupten sie gerne von sich, die Amish, die in ihren altmodischen Kleidern hoch zu Ross oder in eleganten Kutschen durchs ländliche Dutch Country in Pennsylvania trippen, in Familien mit durchschnittlich 7-12 Kindern auf grossen Bauernhöfen leben und sich einigermassen erfolgreich von der Aussenwelt abschirmen. Unser zweitägiger Besuch bei den Amish liess in uns jedoch Zweifel an der angeblich so asketisch und einfach lebenden Gesellschaft aufkommen. Es stimmt zwar, dass die Amish in eigenen Schulen ausgebildet werden, sich beim „Rumspringa“ (eine Art Auszeit, in der alles erlaubt ist und keine religiösen oder sonstigen Vorschriften berücksichtigt werden müssen) selbst auf die Probe stellen, um danach meist freiwillig in den strengen Schoss der eigenen Gemeinschaft zurückzukehren und dass sie noch immer einen für uns kaum verständlichen mitteldeutschen Dialekt sprechen. Dass die Amish aber, wie wir dachten, auf Strom, fliessendes Wasser oder den Luxus von motorisierten Fahrzeugen verzichten, entspricht nicht ganz der Wahrheit. Zwar lehnen sie Strom- oder Wasserleitungen zu ihren Höfen grundsätzlich ab, da diese Leitungen eine unerwünschte Verbindung mit der Aussenwelt herstellen würden. Auf Elektrizität oder warme Duschen verzichten sie aber keinesfalls. Mit allerlei benzinbetriebenen Generatoren und umgebauten Geräten ist es ihnen möglich, den fast genau gleichen Standard zu leben wie die modernen Amerikaner. Die Amish haben Kühlschränke, elektrisches Licht an ihren Kutschen, Gasherde, Stromlampen und Solarzellen auf ihren Dächern. Zudem – wir haben sie mehrmals dabei „erwischt“ – nehmen sie es offenbar nicht ganz so genau mit dem Vorsatz, keine Autos zu benutzen. Einen Amish haben wir sogar dabei beobachtet, wie er mit seinem Pick-Up Truck und einem riesigen Benzin-Anhänger an einer Tankstelle Halt machte, um Diesel für seine Home-Generatoren einzukaufen. Gott vergelt’s, wir mögens ihnen ja gönnen…
1-3) Amish-Kutschen sieht man im Dutch Country zu Hauf. Der Staat schrieb den Amish vor, ihre Kutschen mit elektrischen Warnlichtern auszustatten, aus Sicherheitsgründen… 4-6) Schon im Kindesalter sind die Amish traditionell eingekleidet. Sie tragen Hosenträger, weil Gürtel sie an die Folter der Eidgenossen erinnern. Männer rasieren sich ihren Bart nach der Hochzeit nicht mehr. Der Schnauz wird aber täglich glattgestutzt, weil Schnäuze sie an die uniformierten Anabaptisten-Jäger Europa’s erinnern. Den Frauen ist es nicht erlaubt, sich die Haare zu schneiden…
Wir grüssen herzlich vom regnerischen Times Square, dem momentan wohl gefährlichsten Ort auf Erden.
Annina & Samuel
Hoi zäme
das war wieder spannend und interessant, was bei euch so abgeht. Bin gespannt auf den Grundstein deines nächsten Traums…. und was hat wohl der 1000-Füssler damit zu tun?
Hebed’s guet und liebe Grüsse
Ursula