„Titanic“ hiess eines meiner Lieblingsbücher als Kind. Das Buch erzählt die fiktive Geschichte von fünf Menschen, die in verschiedensten Positionen (vom Erste Klasse-Passagier bis zum Küchengehilfen) auf der Titanic mitreisten und den Untergang des Riesenschiffes miterlebten. Eine der fünf Personen ist der erste Violinist des Schiffs-Quartetts, das kurz vor dem fatalen Zusammenprall auf dem Oberdeck der Titanic zu spielen beginnt. Das Schiff bricht entzwei, Menschen fliehen in Panik zu den Rettungsboten, die untergehenden Schiffshälften richten sich langsam auf. Doch, der erste Violinist entscheidet, weiterzuspielen. Er entscheidet sich, der Katastrophe mit seinen Mitmusizierenden zu trotzen und zu spielen, bis es nicht mehr geht. Wenigstens etwas schöne Musik sollen die panischen Menschen rund um ihn herum noch hören, bevor sie allesamt untergehen. Jetzt aufzuhören wäre falsch. Die Geschichte des Violinisten endet an dem Moment, als er – noch immer spielend – sich nicht mehr auf dem Deck halten kann und im freien Fall in die Tiefe stürzt. Dieses fiktive Schicksal ist mir über all die Jahre in Erinnerung geblieben. Es hat mich oft zum Nachdenken angeregt und scheint mir heute eine tragische, aber gute Metapher für meine eigene Situation zu sein. Die Welt rund um mich, rund um euch, rund um uns alle, scheint im Chaos zu versinken. Japan droht die ultimative atomare Katastrophe, in Nordafrika herrscht ein brutaler Bürgerkrieg. Und ich, ich sitze auf dem Oberdeck, scheinbar unbekümmert über den drohenden Untergang, und lausche vergnügt der Musik.
Es ist gar nicht so einfach, unter den momentanen Umständen zu Reisen, zu Geniessen und in eine im grossen und ganzen doch ach so heile Welt abzutauchen, wenn gleichzeitig Millionen von Menschen um ihr Leben und ihre Sicherheit fürchten müssen. Doch, was soll ich tun? Jetzt das Steuer rumzureissen, die Reise abzubrechen und mich irgendwie behilflich machen, das könnte den Aufprall kaum noch verhindern. Mit voller Wucht auf den Eisberg zuzurasen und alle Gefahren und Risiken zu ignorieren, das kann ich kaum verantworten. Und so bleibt mir die Musik, der ich gespannt und entzückt lausche, während meine Gedanken oft um den drohenden Untergang kreisen. Die Musik und der Untergang. Ich versuche, die Balance zu finden, und gehe dem Grat entlang, in der Hoffnung, neben den wunderbaren Klängen die tosenden Fluten unter mir nicht zu vergessen, und umgekehrt, mich durch das Kreischen und Schreien nicht zu sehr von der Musik ablenken zu lassen.
Es ist mir ein Anliegen, nicht den Anschein zu erwecken, als ob ich unbekümmert und quickfidel durch die USA trappen würde, ohne mich um „den Rest“ zu kümmern. Ich hoffe, ihr nehmt es mir nicht übel, wenn ich trotz all dem Leid weiter meinen Blick auf das Schöne in dieser Welt und in diesem Land richte. Ich spiele die schöne Musik zum Untergang. Wer will, darf hinhören…
Where there ain’t nothing but white…
Meinen Homestate habe ich am Montagmorgen, nachdem meine NAU-Mates wieder in den hohen Norden Arizona’s abgereist waren, Richtung Westen verlassen. Mein Ziel: Alamogordo, eine isolierte Kleinstadt im Süden New Mexico’s, in deren unmittelbarer Umgebung US-Forscher des Manhattan Projects (ich komme bald darauf zu sprechen) in den 1940er Jahren zahlreiche Atomtests durchführten und ganze Landschaftsstriche zu Übungszwecken kaputtbombten. Alamogordo, das ist jener Ort, auf dessen Camping-Platz ich meinen amerikanischen Laptop überfuhr und an dem ich nur durch langes, gutes Zureden zu mir selbst nicht die Nerven verlor. Ich ging früh ins Bett (ich schlief im Subaru, da im Radio Warnungen für nächtliche Sandstürme durchgegeben wurden), um mich nicht länger ab mir und meinen Fahrkünsten nerven zu müssen und um fit zu sein für die Hikes, die ich für den kommenden Tag im White Sands National Monument geplant hatte. Geweckt wurde ich durch lautes Klopfen an meine Fensterscheibe (das kannte ich ja schon, seit meiner nächtlichen Bekanntschaft mit der Polizei auf Oahu). Draussen standen zwei ältere Herren, Typ Hillbillies, die mich aufforderten, die Tür zu öffnen. Im Schlafsack eingepackt und ziemlich verschlafen öffnete ich und musste mir ein lautes Gewitter von Anschuldigungen anhören. Was mir denn einfiele, einfach so hier zu parken? Ob ich wisse, dass ich auf privatem Grund sei? Ob ich ihnen die Busse gleich jetzt bezahlen wolle? Vielleicht kennt ihr das wohlige Gefühl, wenn euch jemand – aus welchem Grund auch immer – zusammenstaucht und ihr, noch während ihr euch die Anschuldigungen anhört, ganz genau wisst, dass ihr im Recht seid. Ich jedenfalls lächelte und hörte den Herren zu, bis sie verstummten. „I paid the full amount for an RV Hook-Up Space. It’s in the Deposit Box at your office. You better check that box before you wake up your paying customers. Have a good day!“ Ich knallte die Tür zu und drehte mich in meinem Schlafsack demonstrativ auf die andere Seite. Was die Hillbillies taten, weiss ich nicht. Auf dem Weg zur Dusche etwa eine Stunde später kam mir ein weiterer älterer Herr entgegen, der mich um Entschuldigung für das Benehmen seiner Angestellten bat und mir zwei Gratis Laundry-Coupons überreichte, die ich seither in meinem Handschuhfach rumchauffiere. Immerhin.
Frisch geduscht und einigermassen erholt vom Laptop-Schock des Vorabends fuhr ich zum White Sands Monument, schlüpfte in meine Hiking Boots und wanderte bis zum Sonnenuntergang durch eine Landschaft, die mir sprichwörtlich den Atem raubte. Die White Sands Wüste ist wohl die unwirklichste und zugleich schönste Landschaft, die ich in den USA bisher gesehen habe. Nicht so imposant wie der Grand Canyon, nicht so anmutig wie das Yosemite Valley, aber von einer ruhigen und einzigartigen Schönheit, die ich fast nicht fassen konnte. Niemand, wirklich niemand ausser mir war in den White Sands unterwegs. Es war totenstill, strahlend blau und blendend weiss. Und ich lief und lief durch schneeweisse Dünenfelder und vorbei an schneeweissen Felsen, die mir für eine Weile willkommenen Schatten spendeten. Die Formen, die schlichte Farbe und diese herrliche Einsamkeit waren überwältigend. Es fällt mir fast ein wenig schwer, aber, wenn ich meine US-Erlebnisse in ein Ranking einordnen müsste, dann würde das White Sands Monument den Grand Canyon vom Thron stossen. Diese Landschaft scheint mir unschlagbar schön. Gehet hin und staunet! Es ist der Wahnsinn…
Weiss Gott wie sie das hinkriegen, aber auch hier in dieser wunderbaren Einöde, ohne Wasser und praktisch ohne Schatten, gibt es zahlreiche Tiere und Pflanzen, die den Umständen trotzen und gedeihen. Das Mariechäferli war zwar das einzige lebendige Tier, dem ich begegnete. In den White Sands gibt es aber auch Hasen, Füchse, Echsen, Schlangen und alle möglichen Nager. Die meisten sind schneeweiss. Darwin hätte seine Freude an der Region gehabt, wäre er hier vorbeigekommen…
And then, the sun set. Es war traumhaft…
Ich wollte es nicht riskieren, noch einmal von zwei älteren Herren unsanft geweckt zu werden, und entschied mich, Alamogordo für die Nacht hinter mier zu lassen und auf dem „Billy The Kid Scenic Byway“ Richtung Norden zu fahren. Übernachtet habe ich in einem Motel in Capitan, jenem Ort, an dem der offenbar weltberühmte „Smokey Bear“ (Symbol der amerikanischen Brand-Präventionskampagnen) aufgezogen und nach seinem Tod begraben wurde. Eigentlich hätte ich die Nacht gerne in Lincoln verbracht. Das kleine Nachbardorf von Capitan ist im Stil des späten 19ten Jahrhunderts gehalten und verzichtet auf sämtliche künstliche Beleuchtung in der Nacht. Keine Strassenlaternen, keine blinkenden Reklamen, keine Verkehrsampeln. Als ich kurz vor Mitternacht durch Lincoln fuhr, hielt ich am Strassenrand an und spazierte einem Bächlein entlang zu jenem Bed&Breakfast, von dem ich in meinem Lonelyplanet gelesen habe. Das B&B war stockdunkel, kein Licht, kein Geräusch, nichts. Ich schlich um das Gebäude und checkte die Rückseite. Auch da, nichts. Und irgendwie packte mich dann doch die Angst, da ganz alleine, ohne Licht und ohne nichts im Garten einer verlassenen Pension. Ich rannte dem Bächlein entlang zurück zum Subaru und brauste davon Richtung Capitan. Dabei wollte ich es aber dann doch nicht belassen. Und so fuhr ich am nächsten Morgen zurück nach Lincoln und spazierte durch die Gassen. Das Bed&Breakfast, übrigens, gibt es nicht mehr. Das Haus steht leer…
So, der Rückstand ist aufgeholt. Von jetzt an sind die Blog-Posts wieder real time. Bes gly, ond möcheds guet…