And Then We Were Fewer

Er wolle für eine Weile weg aus Flagstaff, raus aus dem Zirkus, neue Landschaften, neue Aussichten, neues Abenteuer, erzählte uns Glenn Anfang Woche und überraschte – mindestens mich – mit seinem etwas harschen Urteil über das good ol‘ Lumber-town am Fusse der San Francisco Peaks. Dass sich das Geschehen in Flagstaff nach knapp zwei Monaten wiederholt, dass man in den Bars die immerselben Leute trifft und dass einem der strahlend blaue Himmel vor lauter Wolkenlosigkeit hie und da auf den Kopf zu fallen droht, das hat schon was. Dennoch, ich bin immer noch gerne hier, entdecke immer wieder neue Ecken und Enden und habe den Eindruck, inmitten einer sehr attraktiven Reiseregion gelandet zu sein. Für Glenn sieht es allerdings etwas anders aus. Er ist „part of the circus“, wie beinahe alle Austauschstudenten. „circus“, so bezeichne ich das sich mir bietende Schauspiel von wechselnden Kurzbeziehungen, hoch-emotionalen Affären und irrationalen Eifersuchtsattacken, das sich im Spannungsfeld der sich gegenseitig abtastenden und an sich Gefallen findenden Kulturen im Umfeld der Internationals abspielt. Es menschelt, auch hier in Arizona. Die Abenteuerlust (nicht nur im reise-spezifischen Sinn) greift um sich und viele können den sich bietenden Versuchungen offenbar nicht wiederstehen. Ich habe mich von Anfang an strikt aus dem „circus“ rausgehalten und mich als neutraler und amüsierter Beobachter jeweils (so gut mir das gelingt) im Hintergrund gehalten. Ich sitze – metaphorisch gesprochen – glücklich auf den vordersten Rängen und schaue gebannt in die Manege, wo sich die Herren und Damen gegenseitig anhimmeln, aufgabeln und fallen lassen. Vielleicht bin ich einfach zu alt, um da noch aktiv mitmischeln zu wollen. Oder vielleicht einfach zu glücklich mit meiner momentanen Situation.

Glenn auf jeden Fall ist Part des „circus“, und er will für ein paar Tage Abstand gewinnen. Seinen Vorschlag, für vier Tage in den kalifornischen Yosemite Nationalpark zu fahren, ausgiebig zu hiken und Luft abzulassen nahm ich (gemeinsam mit Jacob und Arnold) gerne an. Am kommenden Donnerstag fahren wir mit dem gemieteten 4×4 los gen Norden. Ich freue mich riesig!

In Flagstaff selbst geht es momentan relativ hoch zu und her. Und das auf eher düstere Art und Weise. Letzte Woche wurde einer meiner Nachbarn, der in der angrenzenden Wohnung gelebt hatte, vor unserem Haus erschossen. Ich habe nichts davon mitgekriegt und habe den Nachbarn zu dessen Lebzeiten auch nicht näher gekannt. Trotzdem macht man sich schon seine Gedanken, wenn man erfährt, was sich da vor der eigenen Haustür abgespielt hat. Es ist nur wenige Wochen her, dass ein paar hundert Meter von hier ein Familienvater von einem Scharfschützen der Polizei erschossen wurde, als er damit gedroht hatte, seine Frau und seine Kinder umzubringen. „… and then, we were fewer“, könnte man mit vielleicht nicht angebrachtem, indirektem Galgenhumor postulieren. Ich bin etwas beunruhigt, zugegebenermassen. Aber an sich keinesfalls schockiert. Keine Meile von meinem Zimmer entfernt steht der hiesige Walmart. Jeder, der mindestens 18 Jahre alt ist, kann sich dort aus einem Sortiment von ungefähr 20 Schusswaffen seinen Favoriten aussuchen und sich beim Regal nebenan mit Munition bedienen. Es würde mich keine halbe Stunde kosten, jetzt zu Walmart zu fahren, einzukaufen und bis an die Zähne bewaffnet nach Hause zurückzukehren. Dass es unter diesen Umständen vorkommt, dass einer austickt und abdrückt, erstaunt mich nicht. Ich bleibe weiterhin freundlich gegenüber allen, die ich antreffe, und hoffe, dass ich in den kommenden Monaten keinem Wahnsinnigen in die Schussbahn gerate.

Eric, den ich letzte Woche beim Abendessen im HotSpot (dem besten On-Campus Dining Place) kennengelernt habe, ist ein glänzendes Beispiel dafür, dass – wer einst ein guter Amerikaner sein will – besser schon im jugendlichen Alter übt, mit scharfen Schusswaffen umzugehen. Er hat mir erzählt, dass er, seit er 16 sei, praktisch jedes Wochenende zu seinen Grosseltern nach Colorado fahre, um dort gemeinsam mit seinem Grossvater Squirrels zu jagen. Squirells, das sind jene buschigen Kleintiere, die mir im Rocky Mountains Nationalpark zu Dutzenden über den Weg gehüpft sind und der Natur nichts als ein paar Nüsse und Samen abverlangen. Dennoch empfindet Eric „those damn squirrels“ als Plage und sieht keine andere Möglichkeit, als jedes Wochenende von Flagstaff nach Colorado zu fahren, um dort „those damn squirrels“ zu erschiessen. Am gleichen Abend und am gleichen Tisch habe ich Moises kennengelernt. Wenn Moises nach Colorado fahren möchte, müsste er einen Umweg nehmen. Seit rund einem Jahr nämlich steht in New Mexico ein Haftbefehl gegen ihn aus, wegen mehrfacher massiver Geschwindigkeitsübertretung. Er hat seine Tickets nie bezahlt und sich geweigert, den Führerausweis bei der entsprechenden Stelle für die vom Gesetz verlangte Dauer abzugeben. „I’ll never go back to New Mexico“, hat mir Moises strahlende erzählt. „There’s nothing there anyway.“

Glücklicherweise gibt es aber auch eine Menge sehr positiv auffallender Amerikaner, über die man berichten könnte. Einer von ihnen ist Jamaica (der mir beim Velovorfall vor ein paar Wochen mit Leiter und Kamera zu Hilfe eilte). Jamaica hat mich gerade sehr freundlich und entschuldigend darauf aufmerksam gemacht, dass er die Union Hall leider schliessen müsse und mir angeboten, ich könne in seinem Dorm das Internet benutzen, falls ich noch etwas zu erledigen hätte. Es sind Menschen wie Jamaica und diese wunderbaren Landschaften, die dieses Land trotz all der schiesswütigen Squirrel-Jäger, Nachbarn-Mörder und New Mexico-Raser zu einem Ort machen, den ich liebe. Auch nach zwei Monaten realer Konfrontation ist mein amerikanischer Traum nicht geplatzt. Die Riesen-Seifenblater im New Yorker Central Park scheint also doch keine so gute Metapher gewesen zu sein.

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3 Antworten zu And Then We Were Fewer

  1. BARBI schreibt:

    hoi samuel
    nicht vergessen, es gibt auf der ganzen welt verrückte typen. dazu muss man nicht in die usa reisen. genauso gibt es ja auch auf der ganzen welt wunderschöne gegenden, liebe und zuvorkommende leute und etwas gutes zu essen. in dem sinn denke ich, kannst du ruhig noch bleiben….im land der unbegrenzten möglichkeiten…..nutze diese möglichkeiten und schreib uns weiterhin solch spannende geschichten.
    lieben gruss
    BARBI

  2. Anouk schreibt:

    Hello Mr. Circus
    Da denkt man sich, du sitzt friedlich in den Staaten, isst Burger, spielst football (obwohl Wasserball wohl auch zählt) und feierst Parties – und erfährt plötzlich, dass du in die kriminellen Fänge einer Kleinstadt im Wilden Westen geraten bist! Da scheint ja mächtig was los zu sein im amerikanischen „Outback“. Du wirs übrigens nicht glauben, wie ich von deinem Blog erfahren habe…durch die „zukünftige-Professorin-im- Vermicelle“ persönlich!!:-)
    Das mit deinem Nachbar tut mir Leid. Ich denke allerdings nicht, dass du dich vor einer Schiesserei fürchten muss (zumindest solange du DIE Jeans nicht trägst). Erschossen wird man wohl eher, wenn man Teil des (kriminellen) Circus ist, Zuschauer kriegen da bloss die Blutspritzer ab. Deine Strategie scheint also aufzugehen!:-)
    Nun aber zur eigentlichen Sache: Ich musste einst in der Kanti einen Vortrag zum Yosemite Nationalpark halten und bin deshalb sozusagen eine kleine Yosemite-Expertin!! Hier also einige Tipps:
    (1) laut meinen Recherchen solltest du MINDESTENS alle 2m einen litter bin finden (der park wirbt mit seinen umweltfreundlichen Einrichtungen!)
    (2) du solltest das Ahwahnee Hotel bestaunen gehen (wie kann man in eine so schöne Landschaft ein so hässliches Haus bauen…?)
    (3) Falls es dir beim Wandern, Klettern und Natur-Bestaunen langweilig werden sollte, kannst du immer noch golfen gehen!!!
    Tja, das sollte das Wichtigste sein…also viel Spass!!
    Liebe Grüsse, Anouk

  3. Ursula schreibt:

    Hoi Samuel
    du hälst dich im Wilden Westen auf! Also pass auf 😉 Vielleicht findest du im Supermarkt eine Schussweste??? Spass beiseite und halt die Ohren steiff.
    Liebe Grüsse aus dem ruhigen und friedlichen Küssnacht
    Ursula

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