„Jamaica, my bike’s on top of the Louie statue“

12. September 2010, das ist mein sechster Sonntag in den USA. Im Sonntage-Zählen bin ich inzwischen recht geübt. Nicht, weil ich auf keinen Fall den Gottesdienst in der Church of Jesus Christ of Latter-day Saints gleich um die Ecke verpassen will und auch nicht, weil ich als einer der ersten die neue Maloney-Folge auf http://www.drs.ch hören möchte, sondern weil ich meiner Freundin versprochen habe, jeden Sonntag eine Postkarte zu schreiben. Um keinen falschen Verdacht aufkommen zu lassen: das war meine Idee und wurde keinesfalls von ihr gefordert. Jedenfalls, so scheint mir, verging die Zeit zwischen zwei Sonntagen noch nie so schnell wie diese Woche. Ein Zeichen dafür, dass mich der fordernde und spannende Alltag fest im Griff hat. Ein Alltag, der jedoch keinesfalls grau erscheint, sondern von strahlend blauem Himmel überspannt immer neue Begegnungen, Stories und Schreckmomente bereithält.

Als ich vor drei Wochen hier mein Quartier bezog und zum ersten Mal durch die noch fremden Gassen von Flagstaff strauchelte, hatte ich ein wenig Angst um meinen Blog, den ich dank meiner dreiwöchigen Cross-Country Reise immer wieder mit – so wurde mir gesagt – „witzigen, spannenden und nachdenklich stimmenden“ Einträgen füttern konnte. Hat Flagstaff das Potential, nennenswerte Blogstories zu liefern? Reichen die Skandälchen und Andersartigkeiten einer amerikanischen Kleinstadt, um den Hunger der Blog-Community zu stillen? Oder verkommt insideusa.ch zu dem, was es einst eigentlich sein sollte; ein privates, digitales Tagebuch, das im World Wide Web fehl am Platz ist? Die Antwort auf all diese Fragen fällt eindeutig aus: Flagstaff hat viel mehr blogwürdige (eine schöne Wortkreation, oder?) Stories zu liefern, als die dahinbröckelnde Backsteinfassade des 1890er Downtowns auf den ersten Blick vermuten lässt. Der Arizona-Alltag im 70’000 Seelen College-Town schreibt ein faszinierendes Drehbuch, aus dessen farbigen Happenings sich mühelos Blogeintrag an Blogeintrag zusammenstiefeln lässt.

Aber, genug der Einführung. Ab zu den hard facts. Ich habe mich entschieden, den aktuellen Eintrag in Form einer „dotted list“ zu gestalten. Die Themenvielfalt ist meines Erachtens etwas zu breit, um alles in einen schlüssigen Fliesstext verpacken zu können.

– Enttäuschende News gibt es aus dem Hörsaal BS 265, in dem Professor David A. Nesheim dreimal wöchentlich cool hin und her schlendernd aus der jüngeren amerikanischen Geschichte erzählt. Nach seinem verbalen Ausrutscher in der ersten Stunde („those damn Nazis…“) hatte er sich in den darauf folgenden Lectures von einer versönlicheren Seite gezeigt und in akzeptabler Manier über den Civil War und den Great Strike erzählt. Vergangenen Freitag aber leistete sich Nesheim erneut einen Auftritt, für dem ich ihm am liebsten an seine neo-kapitalistisch verblendete Amerikaner-Gurgel gesprungen wäre. Um die Situation der amerikanischen Arbeiter im ausgehenden 19. Jahrhundert besser erläutern zu können, machte Nesheim einen gedanklichen Ausflug zum alten Kontinent, für den er offensichtlich keine allzu grossen Sympathien hegt. Er spannte den Bogen über zu Marx und dessen Schriften, die im wesentlichen die Volksaufstände des vorletzten Jahrhunderts anpeitschen und die Revolution des Proletariats rechtfertigen sollten. Ich zähle mich selbst nur in religions-philosophischer Hinsicht zu den Marxisten, denke aber trotzdem, dass man auch dem politischen Schreiber Marx für seine Erkenntnisse in einer von ausnutzerischen Industrie-Giganten dominierten Zeit Tribut zollen sollte. Professor David A. Nesheim tat dies mit folgendem Wortlaut: „Good old Karly, yeah. Did you know he had very bad piles [Hämorrhoiden]? So, I imagine he was standing all the time when he wrote his stuff. Standing there and writing that Manifestooooo. That always makes me laugh.“ Mehr kam ihm zu Marx nicht in den Sinn. Was macht man da? Aufstehen und laut fauchend aus dem Hörsaal stampfen; das wäre angebracht. Doch dazu bräuchte es den von Marx damals geforderten Mut zum Austand gegen die unterdrückenden, rücksichtslosen Mächte. Und so schlendert ein Teil dieser im 20. Jahrhundert neu konstituierten Macht weiterhin in BS 265 umher, ohne kritische Gegenwehr, die ihm vor versammelter Studentenschar die akademischen Leviten lesen würde, bis dann eines Morgens vielleicht doch einmal jemand dem proletarischen Ruf folgt und sich gegen die in jeglicher Hinsicht idiotische Ungerechtigkeit aufbäumt.

– Erfreulichere News gibts aus dem sportlichen Sektor der NAU. Neben meinem täglichen Basketballspiel und den beinahe regelmässigen Besuchen im Pine View Village-Fitnessraum bin ich (oder wahrscheinlich besser, war ich) Teil des NAU Water-Polo Teams. Wasserball, ein Sport, der hier im Wüstenstaat Arizona eine gewisse abstruse Note hat, aber als Freizeitvergnügen dennoch grosses Potential hat. Mindestens, wenn man einmal halbwegs erfolgreich Handball gespielt hat und am „Schnellschte Schwemmmärger“ hinter Uwe Brühlmann und einem anderen Dauer-Badi-Besucher Dritter geworden ist. Das zweistündige Training ist ziemlich hart. Nach einer Stunde einschwimmen (meist mit erhobenen Händen) haben wir in der zweiten Stunde auf dem Wasserball-Feld in der NAU-Schwimmhalle drauflosgespielt. Was mich geehrt hat: ich erhielt vom Trainer nach der Aufwärmphase eine weisse Wasserball-Mütze aufgesetzt. Das machte mich zum Teil des A-Teams. Das B-Team, das auf dem angrenzenden Feld spielte, erhielt blaue Mützen. Das Spiel machte mir zwar Spass und die Anstrengung ist genau das, was ich brauche, um meiner Gewichtskurve (die übrigens tendentiell Richtung unten zeigt) den nötigen Abwärtsdrall zu geben. Dennoch: die rauen Unterwasserattacken und die lauten Schreie der Mit-Weissmützler bei offenbaren Regelüberschreitungen liessen mich nach zwei intensiven Stunden im kalten Nass zum Schluss kommen, dass Wasserball eben doch nur ein unwürdiges Pendant zu Handball ist, für all jene, die sich an Land nicht über Wasser halten konnten. Meine NAU Water-Polo-Zeit hat sich also bereits dem Ende zugeneigt. Ich bleibe aber bei meiner Basketball-Ambition, noch vor Weihnachten „the enemy“ zu bodigen. Also; weiterhin kein Zeichen von Sportflaute. Diesbezüglich hat es mich übrigens gefreut, dass man in den afro-amerikanischen SUVs seine Meinung bezüglich meiner Basketballkünste offenbar geändert hat. Anstatt mir (wie noch vor zwei Wochen) „cracker“ nachzurufen, hat letztens einer dieser SUVs an der Milton Road neben mir angehalten, um in Form von Beifahrer Scott zu fragen, „if u wana play some ball later on, bro“.

– Wer von euch sich nach all meinen Schilderungen dazu entscheiden sollte, selbst einmal ein Austauschsemester an der NAU in Angriff zu nehmen, dem empfehle ich, vor Ort bei einer amerikanischen Bank ein Konto zu eröffnen. Die NAU streubt sich nämlich mit allen Mitteln gegen europäische Master- und Visa-Karten. Mindestens ebenso fest streubt sie sich, ausländische Krankenversicherungen zu akzeptieren. Das führte dazu, dass ich bis Ende letzter Woche 672 US-Dollar hätte einzahlen sollen, für meine amerikanische Krankenversicherung. Da dies trotz dutzender Versuche mit meinen Kreditkarten nicht klappte, musste ich den Betrag in Bar beim zuständigen Büro vorbeibringen; in 20-er Noten. Das sind die grössten, die die hiesien ATM-Automaten ausspucken. Der Fairness halber soll aber gesagt sein, dass dies der einzige Fleck auf der sonst weissen Weste der Internationalen Austausch-Uni NAU ist, den ich bisher ausmachen konnte (oder eben nicht…).

– Die eigentliche Titelstory dieses Beitrags lieferte mein vor drei Tagen ersteigertes Ocean Pacific Bike. Da mir das ewige Rumlaufen entlang der mehrspurigen Highways langsam auf die Lungen schlug, entschied ich mich dafür, trotz anfänglicher Zweifel ein Velo anzuschaffen. Das macht das Erkunden der flächenmässig sehr grossen Stadt wesentlich einfacher. Walmart (den ich entgegen der Meinung naher Verwandter nicht als „Vorgarten der Hölle“ empfinde) hat mehrere sehr günstige Bikes im Angebot. So günstig, dass es moralisch sicher verwerflich ist, sich ein solches Gerät anzuschaffen, wenn wir schon von Neo-Kapitalismus und Marx sprechen. Aber eben, mein Budget verlangt in gewissen Situationen unmoralisches Handeln. Das schwarze Citybike sorgte knapp fünf Stunden nach der Anschaffung für einige Aufregung. Ich parkierte das Gerät vor der Union Hall, in der an diesem Abend die „black&white party“ für alle Freshmen (Erstsemester-Studenten) stattfand. Mit dem dazugekauften Schloss machte ich das Bike unstehlbar (die zweitbeste Wortkreation in diesem Eintrag) und setzte mich in einem ruhigen Union-Ecken hin, um meine Mails zu checken. Als ich etwa zwei Stunden später wieder vor dem Velostand stand, war das unstehlbare Gefährt offenbar – ganz entgegen seiner Unstehlbarkeit – gestohlen worden. Jedenfalls stand es nicht an dem Platz, wo es unstehlbar hätte stehen sollen. Mit amerikanischer Gelassenheit machte ich die Runde um die Union Hall, in der Hoffnung, dass ich mich im Velostand geirrt oder sonst etwas übersehen hätte. Ich staunte nicht schlecht, als ich an der gut drei Meter hohen Louie (ein legendärer Holzfäller)-Bronzestatue vorbeikam, die vor der grossen Glasfront der Union Hall in die Höhe ragt. Auf dem Kopf der Statue hing/stand/lag (ich bin mir da nicht so sicher) mein Velo. Zur Begeisterung dutzender von Freshman, die sich fotografierend um die Statue versammelten und über den tatsächlich recht gelungenen College-Scherz lachten. Ich stahl mich heimlich davon und landete auf der Suche nach einer Leiter am Informationsdesk, an dem „Jamaica“ (der Mann heisst so) sass und sich erkundigte, ob ich etwas suche. Ich sagte: „No, I actually found something. My bike, it’s on top of the Louie statue.“ Nicht verwunderlich, dass mich Jamaica etwas wütend anblitzte und mir erst nach meinem offenbar überzeugenden Ich-bin-nicht-betrunken-Plädoyer mit Leiter und Fotokamera hinaus zur Louie-Statue folgte. Jamaica, ein an sich sehr netter Mensch, machte Fotos (ich habe eines unten aufgeschaltet, sozusagen als Beweis), lachte mit den umherstehnden Freshmen und half mir dann, das unversehrte Bike auf festen Boden zu hieven. Das sei eine Premiere in seiner Zeit als Abwart hier, versicherte mir Jamaica, und versprach mir, die Fotos per Mail zuzuschicken. Interessante erste Stunden mit dem neuen Gefährt. Man darf gespannt sein, welche Premiere sich das Schicksal für meinen in Bälde geplanten Autokauf ausgedacht hat.

Als Illustration zwei Bilder meines amerikanischen Zweirads mit antiker Hupe und eines von Jamaicas Beweisfotos vom Louie-Incident.

E gueti Woche ond bes gly…

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Eine Antwort zu „Jamaica, my bike’s on top of the Louie statue“

  1. Ursula schreibt:

    Hoi Samuel
    das ist ja der Hammer! Eine tolle Nummer mit dem Bike. Nun ja, du hast tatsächlich ein fliegendes Unterteil gekauft, welches eine grosse Menge Red bull getankt hatte, denn Red Bull verleiht Flügel. Schön, dass es nun wieder in deinem Besitz ist.
    Bin auf neue Storys sehr gespannt. Die Karte ist angekommen, vielen Dank und liebe Grüsse
    Ursula

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