Mal wieder ein szenischer Einstieg? Ok: Der Lesesaal im zweiten Stock der Cline Library ist zu dieser Zeit – es ist kurz vor 22 Uhr – praktisch leer. Ein paar Asiaten sitzen am Tisch vor mir, tief über ein Buch gebeugt, und diskutieren leise über ein offensichtlich mathematisches Thema. Unten beim Eingang habe ich Adel getroffen, den Saudiarabier, der mir at Glenn’s letztens freundlich aber bestimmt erklärt hat, dass ich ihn nicht fotografieren dürfe. Adel ist 400m Läufer. Um 21 Uhr begann sein Abendtraining. Zweimal täglich ist er mit der Track&Field Truppe in Flagstaff unterwegs, joggt durch die dunklen Gassen und über den Urban Trail, den die Regierung vor einigen Jahren angelegt hat, um in den „Stadtmenschen“ in Flagstaff die Freude an der nahen Natur zu erwecken. Vielleicht sollte ich auch einmal mit Adel durch das nächtliche Flagstaff joggen. Normalerweise aber komme ich erst durch die Cline Library Eingangspforten rein, wenn Adel mit elegantem Schritt und breitem Lachen bereits auf dem Weg hinaus in die frische Nachtluft ist. Das nachtschwärmerische Dasein, das ich die letzten Jahre zelebriert und genossen habe, konnte mir die etwas ermüdende Höhenluft hier im Nördlichen Arizona noch nicht nehmen. Aber eben, szenischer Einstieg: Mein Schädel brummt, fast so laut, wie die Neonröhren oberhalb meines Arbeitsplatzes. Alex Murray, der Londoner, hat mir beim nachmittäglichen Fussballspiel auf den Campus Heights unabsichtlich, aber mit voller Wucht den Ellenbogen in die rechte Schläfe gerammt. Es wurde für einen Moment dunkel. Seither schmerzt mein Kiefer. Alex ist etwas über 190 gross und geschätzte 110 Kilogramm schwer. Sein Ellenbogen hat es im vollen Lauf durchaus in sich. Das Positive daran: ich bin meine serge’schen Sorgen, die mich seit der unliebsamen Auseinandersetzung mit dem übermütigen jungen Herr Nübling vor gut vier Jahren plagten, wohl endgültig los. Alex „haute“ mich nämlich auf die rechte Backe. Somit wäre – mindestens im symmetrischen Sinne – für Ausgleich gesorgt und ich kann ab sofort wieder ohne Bedenken Zischlaute von mir geben.
Ok, lassen wir den szenischen Einstieg. Das klappt heute nicht so richtig. Versuchen wirs „in medias res“. Professor David A. Nesheims Stimme klingt nicht eben schön, aber doch mindestens so laut, dass auch die etwas verschlafen dreinblickenden Teenies in der hintersten Reihe von BG265 mitbekommen, was er sagt. Der Raum ist wie aus einem US-Blockbuster. Grosse Stars&Stripes Banner hängen links und rechts von der Decke runter. Vorne an der Tafel hängt eine World Map mit den USA im Zentrum. Der Gang des Profs, der unaufhaltsam von der einen Seite des Raumes zur anderen stolpert, ist überbetont lässig. „American history“, ruft er begeistert ins Publikum, nachdem auch die letzte Horde Studenten ihre Skateboards an die Wand gehängt und im Saal Platz genommen hat: „Yeah, American history. Do you guys feel tired this morning?“ – „mm…“ – „Ok, let’s do it like this. Who feels tired this morning, raise your hands!“ Ein paar Hände gehen hoch. „Wow, that’s amazing. Some actually didn’t raise their hands, that’s amazing.“ Etwa 10 Minuten geht das so. Professor David A. Nesheim „connected“ sich mit der etwa 60-köpfigen Klasse. Er fragt mindestens dreimal nach, ob wir nach den langen Ferien nicht müde seien. Er betont, dass er es locker angehen wolle. Irgendwann klickt er sich über den Beamer auf Youtube und spielt einen Song einer Band, die in wilder Punkmanier offenbar etwas über die US Geschichte singt. Ich beginne, in meinem Moleskine Notebook die Titelseite zu malen. „American History since…“ … und dann das: „You know, back in the 40ties when we defeated those damn Nazis with their funny chaps, those were the times…“ Hat er das wirklich gesagt? Ja, er hat. Ben – der Australier mit dem roten Haar – der neben mir sitzt, schaut ebenfalls etwas konsterniert von seinem Schreibblock hoch. Professor David A. Nesheim macht eine ernste Mine. Dann lacht er auf. „Don’t worry, I’m joking guys. You better get used to that. That’ll happen a lot.“ Professor David A. Nesheim ist also just joking. Beruhigt mich das? Nicht wirklich. „when we defeated those damn Nazis“; schwere Worte für einen Professor, der seine Klasse zurück aus den Ferien begrüsst. Ich wüsste gerne, was ein solch anti-akademischer Wortschwall an einer Schweizer Universität für Konsequenzen nach sich ziehen würde. Noch lieber wüsste ich, wie David A. Nesheim wirklich über diese Zeit in den 40s denkt, als sein Amerika „those damn Nazis“ geschlagen hat.
Ich lausche gespannt, notiere mir alle Aussagen von Mr. Nesheim, versuche, einen Brocken Ernsthaftigkeit in seiner Rede zu erhaschen. Das gelingt mir in der ersten Stunde nicht wirklich. Was nach der Session bleibt ist ein etwas mulmiges Gefühl. Amerika, ein Ort an dem akademische Standards sicher nicht gross und offenbar auch total anders geschrieben werden, als ich mir das von den Zürcher Professoren gewohnt war. Die zweite Stunde beginnt etwas weniger agressiv. Professor Michael Amundson, gut 2 Meter gross, eine tiefe Stimme, unterrichtet Amerikanische Geschichte bis zum Sezessionskrieg. Er verbringt seine erste Stunde damit, von seiner Begeisterung für Baseball und die Colorado Bronkos (glaube ich) zu erzählen. Eine Diskussion entsteht zwischen ihm und einem der Studenten, der offenbar gegen die Bronkos ist und sich in einem Disput, der zu lange dauerte, als dass man ihn noch als halbwegs witzig hätte abtun können, mit Herrn Amundson in sporthistorische Details verstrickt. Dann erzählt Herr Amundson von seinem 15-jährigen Hund „who needs my attention“. Das sei der Grund, weshalb er nur morgens unterrichte. Offenbar ist Studieren in den USA etwas weitaus Informelleres als bei uns. Herrn Sarasin oder Herrn Tanner über ihren Hund oder ihre Sportvorlieben sprechen zu hören, das käme mir mehr als komisch vor. Diese Professoren strahlen eine natürliche Autorität aus, markieren Präsenz mit intelligenten Vorträgen und tiefgründigen Sätzen. Die Herren Amundson und Nesheim tun dies mit unangebrachten, pseudowitzigen Hasstiraden und Anekdoten aus ihrem Privatleben. Gewöhnungsbedürftig, aber doch immerhin interessant. Interessant dann auch die Vorstellungsrunde, die Herr Amundson lancierte. Der Reihe nach mussten sich die Studenten kurz erheben und erklären, wer sie sind und weshalb sie Geschichte studieren. Die sich Vorstellenden verwendeten allesamt die Phrase „born n’raised“. Geboren und Aufgezogen. Das ist wichtig hier. Wer und woher bist du? Wieso kommst du in diesen Teil des Landes und bleibst nicht an der Küste Kaliforniens oder in den Strassen Manhattans. Man will das wissen, fragt nach, lauscht gespannt, woher der Nachbar kommt. Ich freute mich fast ein wenig auf meinen turn, hatte dann aber doch beträchtlich Herzklopfen, als ich mich vor der vereinten zukünftigen Historikern erhob und sagte: „Samuel Schumacher, born n’raised near Zurich, Switzerland.“ Das schlug ein. Mindestens bei Herrn Amundson. Der war begeistert und löcherte mich (immer noch stehend) mit Fragen über das europäische Uni-System, die Schweizer Studenten und den Grund für meinen Austausch in Arizona. „Born n’raised near Zurich, Switzerland.“ Ein guter Satz, wenn man mal auf sich aufmerksam machen muss.
Mein Eindruck der NAU nach der ersten Studienwoche ist durchzogen, aber durchaus positiv. In den folgenden Stunden hat sich Professor David A. Nesheim mit seinen Aussagen über die Nazis deutlich zurückgenommen und Herr Amundson widmete sich nach einigen weiteren Privat-Anekdoten schliesslich der Frühgeschichte des Nordamerikanischen Kontinents. Die 19 Bücher, die ich in meinen vier Geschichtskursen (über den Europa-Geschichtskurs gibts bald mehr zu lesen. Zum Beispiel, was die USA über die Schweizer Haltung zu Minaretten denken) die kommenden Monate lesen muss und darf, tönen sehr spannend. Der Ansatz, vor allem via Primärquellen und literarische Werke in die „Tiefen“ der Geschichte vorzustossen, gefällt mir gut. Das Klima in den Klassen ist sehr konzentriert und die Diskussionen intensiv. Ich freue mich auf kommende Woche und bin weiterhin gespannt, wie Amerika denkt und zu denken lernt.
Die Six-Pix zeigen heute ein paar Eindrücke von meinem Besuch beim Football-Heimspiel der NAU Lumberjacks gegen die Western New Mexico Mustangs im riesigen Sky Dome, der am südlichen Ende des Campus steht. Football ist in etwa so langweilig wie Baseball. Von Sport kann meines Erachtens keine Rede sein. Entertainment bringt es einmal mehr auf den Punkt. Riesige Marching Bands, komische Tänze der Teams vor Matchbeginn, lächelnde Cheerleaderinnen, Armeeangehörige, die sich von der Dome-Decke an Seilen auf den Boden herablassen, riesige Flatscreens mit Werbespots… Ich bin gespannt auf das NBA-Spiel der Phoenix Suns gegen Miami Heat, dem wir im November in Phoenix beiwohnen werden. Die NBA hat es in der Hand, mir den Glauben an den Amerikanischen Sportsgeist wieder einzuhauchen. Ich bleibe aber kritisch. Anyway… Mein Schädel brummt immer noch, die Vorfreude auf mein Bett wächst. Morgen kommen die beiden nächsten Einträge: „APT 20“ und „4 billion years ago“.
Hend e guete Tag!