Roadtrip. Das Wort weckt in mir Erinnerungen verschiedenster Art. Wer sich mit den amerikanischen Teenie-Streifen à la „American Pie“ auskennt, der weiss, dass der Roadtrip eine unausweichliche Station im Leben jedes jungen Amerikaners ist. Sobald die Highschool gegraduatet wurde und das erste eigene Auto vor der Tür steht, setzen die jugendlichen US-Bürger zur grossen Fahrt (meist an die Westküste) an und machen ihre ersten längeren Gehversuche auf den eigenen vier Rädern. Wer Jack Kerouac’s Buch „On the Road“ gelesen hat, der weiss, dass es keine bessere Variante gibt als den Roadtrip, wenn man in den USA Land und Leute kennen lernen will. Und wer selbst schon mal das Vergnügen hatte, die aus ökologischer Sicht sicherlich höchst unvernünftige, aber eben dennoch mit unvergleichlich schönen Freiheitsgefühlen und Abenteuerlust gekoppelte Reiseart auszuprobieren, der wird meinen Entscheid, für die letzte Reiseetappe vom Zug auf das Auto umzusteigen, sicherlich verstehen. Nach drei Tagen on the road und 1231 Meilen hinter mir bin ich selbst ein Roadtrip-Fan geworden. Es gibt wohl wahrlich keine ähnlich spannende Möglichkeit, die USA auf eigene Faust zu erkunden. Ich will den Amtrak-Zügen hier keinesfalls in den Rücken fallen. Die Zugreise zwischen New York und Denver hatte ihren ganz besonderen Reiz. Um aber die Landschaften und Szenerien „off the beaten path“ – wie sie hier sagen – erleben zu können, ist ein eigener fahrbarer Untersatz unersetzlich.
Die Strecke zwischen dem Rocky Mountains National Park und Flagstaff ist Roadtrip-technisch sehr abwechslungsreich. Kurvige Pässe durch alpen-ähnliche Landschaften, steil abfallende Strecken durch dichte Kiefernwälder, 100te Kilometer lange Geraden durch die Wüsten New Mexicos und langsames Vorwärtstasten durch den dichten Verkehr in Wild West-Towns wie Grand Junction oder Montrose tragen zum Roadtrip-Erlebnis bei. Neben all dem sind es aber auch hier die Begegnungen mit anderen Menschen, die mich mitunter am meisten faszinierten. „Begegnungen“ der ganz besonderen Art erlebt man mitten auf der Strasse, ohne aus dem eigenen Wagen aussteigen zu müssen. Meine „Roadbuddy“-Theorie ist in der Schweiz immer nur auf Unverständnis gestossen. Hier in den USA glaube ich nun aber den Beweis gefunden zu haben, dass an ihr eben doch etwas dran ist. Roadbuddies, so nenne ich die Mitglieder von Fahrgemeinschaften, die sich – meiner Überzeugung nach – auf längeren Fahrstrecken automatisch ergeben. Man gliedert sich auf dem Highway in eine Gruppe Autos ein und bleibt während Stunden in der immer gleichbleibenden Formation. Man überholt gemeinsam die langsam fahrenden Trucks, man bremst gemeinsam ab, wenn einem die entgegenkommenden Fahrer mit Lichthupen anzeigen, dass um die Ecke eine Highway-Patrol lauert, man geht (und das passierte mir zweimal) sogar gemeinsam tanken. Es ist irgendwie ein gutes Gefühl, umgeben von Roadbuddies durch die Gegend zu kurven. Es gibt einem die Illusion von Sicherheit, man baut ein gewisses Vertrauen zueinander auf, der gegenseitige Respekt wird grossgeschrieben. Einen Roadbuddy zu überholen ist Verrat. Man macht das nicht. Und wenn man selbst von einem überholt wird, dann schüttelt man mit Unverständnis den Kopf. Solche Manöver gibt es zwischen echten Roadbuddies aber eben nur ganz ganz selten. Es tut einem fast leid, wenn man dem eigenen Ziel nahe vom Highway runter muss und sich durch ein kurzes Handheben von den Buddies verabschiedet. Ich fantasiere hier nicht. Ich berichte bloss von meinen Erlebnissen. Roadbuddies, die gibt es hier in den USA zu Hauf. Und wer mir meine Roadbuddy-Theorie immer noch nicht glaubt, der soll gefälligst hierhin kommen. Ich habe genügend Beweise!!
Als ich am zweiten Tag durch die Rocky Mountains Ausläufer im westlichen Colorado fuhr, setzte zum ersten Mal seit meiner Ankunft in New York starker Regenfall ein. Das ist rein fahrtechnisch sowieso eher unangenehm. Was die Situation noch etwas schwieriger machte: die meisten amerikanischen Automodelle (mein Chevrolet Cobalt eingeschlossen) haben keinen Scheibenwischer an den Rückfenstern (wie heissen die? Heckfenster? Kofferraumfenster? Ich weiss es schlicht nicht, also „Rückfenster“). Die symbolische Frage, die sich hier aufdrängt: nehmen die Amerikaner beim Autofahren also keine Rück-Sicht? Um des Wortspiels Willen ist diese Frage sicher stellenswert. Berechtigt ist sie meines Erachtens aber nicht. Die allermeisten Amerikaner (soweit mir das Urteil nach 1231 gefahrenen Highway-Meilen zusteht) fahren sehr anständig und umsichtig. Tempolimiten werden tendentiell um ca. 3 bis 4 mphs unterschritten. Die Verständigung an heiklen Stellen klappt sehr gut. Ob das am amerikanischen Charakter oder der Fahrschulung liegt? Ich vermute den Grund an einem ganz anderen Ort: High-Patrols. Um Verkehrssünder und Zu-Schnell-Fahrer ausfindig zu machen, setzen die Amerikaner nicht wie wir Schweizer auf Blitzkästen, sondern auf ebendiese Highway-Patrols: Polizeipatroullien, die in ultraschnellen Fahrzeugen am Highwayrand lauern und mit Laser-Messgeräten die Geschwindigkeit der vorbeifahrenden Autos messen. Wenn einer zu schnell fährt, brechen die Polizisten („the blues“ genannt hier in Arizona) mit höllischem Sirenenlärm und wild blinkenden Scheinwerfern aus ihrem Versteck aus und verfolgen den Sünder. Dank Lonelyplanet weiss ich, was man in solchen Situationen als „Sünder“ tun soll. Rechts ranfahren, Fenster runterlassen, Hände ans Steuerrad und ruhig warten. Ja nicht aussteigen, ja nicht nervös werden, ja nicht fliehen. Da ich während meiner Zeit hier keinesfalls mit dem Staatsgesetz in Konflikt geraten möchte (meine gemachten Erfahrungen mit den Grenzen der Legalität reichen denke ich, um sie hie und da gekonnt als abenteuerliche Anekdoten in die Runde werfen zu können. Ich brauche also keine weiteren Grenzüberschreitungen, um meinen street-respect zu steigern), habe ich mich stets an die ungeschriebenen amerikanischen Strassenregeln gehalten und mein Fahrtempo knapp unter die erlaubte Höchstgeschwindigkeit gedrosselt. Die Servierdame im E&G’s Grill in Grand Lake, Colorado, hat mich denn auch ausdrücklich davor gewarnt, zu schnell zu fahren. „Highway patrols really suck out here. You don’t wanna mess with them“ war die unmissverständliche Nachricht, die sie mir auf meinen Roadtrip durch den Südwesten mitgab. Doch, wozu erzähle ich das alles… Weil eben alle Bemühungen und Vorbereitungen, alle Efforts und Grenzeinhaltungen nicht genügt haben, um mir die nähere Bekanntschaft mit einer Highway Patrouille zu ersparen.
Es passierte im östlichen Arizona. Ich hatte mich im Visitor Center mit Info-Material über die zahlreichen Sehenswürdigkeiten des Grand Canyon States eingedeckt und setzte meine Fahrt durch die wüstenähnliche Landschaft danach guten Mutes fort. Nicht zu schnell, nicht auffällig, ganz normal. Mir stockte der Atem, als ich die näherkommenden Sirenen hörte, in den Rückspiegel schaute und direkt hinter mir (sie fahren sehr nahe an einen ran) die blinkende Fassade eines Police-SUV’s erblickte. Lonelyplanet, rechts ranfahren, Fenster runter, Hände ans Steuer, warten. Was habe ich falsch gemacht? Zu schnell? Nein, der Tempomat verhindert das. Zu schwankend? Nein, schliesslich fahre ich ja nicht zum ersten Mal einer geraden Strasse entlang. Die Fahrertür des SUVs wird aufgestossen. Ein Indianer (man nennt sie hier höflicherweise Natives) in Polizeiuniform steigt aus. Er schaut sich kurz um, zieht die Hosen hoch. Langsame Schritte, er kommt neben dem Beifahrerfenster zu stehen. Beugt sich runter, ernster Blick. Ich denke an Fahrerflucht. Doch (auch hier), fliehen wohin? Ganz alleine in der Wüste von Arizona. Mit meinem Wägelchen, vor dem protzigen SUV? Ich schaue ihn an. „Hello sir.“ – „How you doin‘?“ – „To be honest; not to good. Did I do something wrong?“ Ich versuche, freundlich, fit und munter zu klingen. Er lächelt kurz. „Where are you from?“ Wieso will er das wissen? Wirkt die Schweizer Staatsbürgerschaft wohl strafmildernd? „From Switzerland, I mean… I’m Swiss.“ – „Switzerland? Europe, he?“ – „Yeah, in the center of it.“ Ich wäre am liebsten da, in Switzerland, in the center of it. Weg aus der Wüste, weg von der Patrouille. Weit weg. „Your driver’s license.“ – „Sure.“ Er schaut sie an, dreht sie um. „It’s smaller than ours.“ – „Oh, I’m from a small country, you know.“ Der Witz (wenn man das so nennen kann) kommt nicht an. Ernster Blick. „You rented that car.“ – „Yes, in Denver.“ – „Where u headin‘?“ – „To Flagstaff.“ – „Tourist?“ – „No, I’m an exchange student.“ – „At NAU?“ – „Yes.“ – „Ok, have a great time.“ … … … Das wars? Er stellt sich gerade auf. Hosen rauf. Blick nach vorn. Ein Lächeln. Das wars. Lonelyplanet: warten, bis der Polizeiwagen losgefahren ist. Dann erst wieder in den Verkehr eingliedern. Ich warte. Er fährt los. Ich gliedere ein und lache. Was war das? Offensichtlich habe ich nichts falsch gemacht. Offensichtlich war das eine Standardkontrolle. Offensichtlich macht man in Amerika auch bei Standardkontrollen einen riesen Lärm und rast dafür wie wild über die Highways. Offensichtlich. Und irgendwie nützt es. Denn, wie gesagt, man fährt hier sehr anständig, man nimmt (auch ohne Scheibenwischer) Rücksicht. Man kennt die „Roadbuddy“-Theorie. Jedenfalls kommt mir jetzt nicht mehr bei jeder Highway-Patrol, an der ich vorbeifahre, sofort der Todestrakt von Huntsville in den Sinn. Ich nehms ein wenig gelassener. Und fürs nächste Mal überlege ich mir einen besseren Witz.
Zu den Six-Pix (alle aus dem oder im Auto gemacht): 1) Passstrasse bei Silverton, Colorado, 2) Lake Andrews, 3) Sonnenuntergang in New Mexico, 4) ich, 5) Arizona, 6) Highwaytafel kurz vor Flagstaff.