Heading North, HEADS DOWN!

Der Abschied aus dem Hostel of the Rockies war kurz und einigermassen herzlich. Ich packte meine Sachen, nahm Jims Reisegrüsse entgegen und begegnete auf der Knochenveranda einem äusserst glücklichen Josh. Er habe gerade ein Telefon des Sunflower-Grocery-Store-Managers aus irgendeiner Stadt in Texas erhalten. Er könne sich nächste Woche dort vorstellen gehen. Ein Hoffnungsschimmer am düsteren Horizont der Rockies-Gäste. Vielleicht verliert das Hostel nun einen seiner Langzeit-Residents. Dann hätte Darren wieder ein Zimmer aufzuräumen. Und das „Office“ müsste sich bald mit einem neuen Gast abmühen.

Ich ging mit meinem Gepäck in die nahe gelegene Autovermietungs-Station von Avis, wo ich einen nagelneuen Chevrolet Cobalt entgegennehmen durfte. Die Extra-Gebühr, die man als unter 26-jähriger Automieter in den USA eigentlich zu zahlen hätte, wurde mir von der freundlichen Rezeptionistin aus unerfindlichen, aber durchaus willkommenen Gründen erlassen. Ich nutzte die gute Stimmung und fragte, ob es allenfalls möglich sei, das Auto ein paar Tage länger als geplant zu mieten und es dann in Flagstaff zurückzugeben. Das „oh yes, sure, you can do that“ empfand ich als grosse Erleichterung. Die Aussicht, mit all meinem Gepäck zuerst eine Nacht lang am Bahnhof Denver auf meinen Bus nach New Mexico zu warten und dann irgendwo in New Mexico bei 40 Grad den ganzen „Pagasch“ in einen Zug zu hieven, wurde mir in den vergangenen Tagen immer wie unsympathischer. Die Entscheidung, meine Reisepläne zu ändern und die letzte Teilstrecke bis nach Flagstaff auf den eigenen vier Rädern in Angriff zu nehmen, war sicherlich richtig.

Mit meinem Chevy (er hat noch keine 5000 Meilen auf dem Kasten) und laut aufgedrehtem Country-Sound suchte ich nach dem erfolgreichen Avis-Deal während knapp zwei Stunden meinen Weg raus aus Denver. Das erste Mal in den USA hinter dem Steuer zu sitzen war an sich nicht unangenehm. Mit den bis zu 5-spurigen Highways hatte ich aber anfänglich doch meine Mühe. Irgendwann fand ich dann den Highway 36 und fuhr vorbei an aggressiv blinkenden Werbebannern und dutzenden Fastfood-Restaurants Richtung Norden. Bemerkenswert: um in all dem Werbegefunkel überhaupt noch werbewirksam auffallen zu können, haben verschiedene Firmen, Restaurants und Tankstellen Leute angestellt, die direkt an den Highways stehen und wie wild von Slogans übersäte Tafeln in der Luft umherwirbeln. Diese Szenen erinnerten mich an Innerschweizer Fahnenschwinger, nur, dass das friedliche Alpenpanorama hier durch ein verwirrend wirkendes Advertisment-Lichtermeer ersetzt wurde.

Bald nach Denver wird die Landschaft sehr hüglig und wild. Als ich mit 45 mph (miles per hour) während einer knappen Stunde durch die einsame Gegend brauste, spürte ich die Freiheit, die ich mir von solchen Roadtrips immer erhofft hatte, wie sie sich langsam um mich herum ausdehnte. Ich könnte überall hinfahren. An den Grand Canyon, nach Oregon, hinauf bis nach Alaska, zurück nach New York oder hinunter zu den Flordia Keys. Ich könnte. Niemand hier, der mich davon abhalten würde. Keinen Zeitplan, den ich einhalten muss. Niemand, der mich erwartet (ausser vielleicht den Camping Rangern im Rocky Mountains National Park, aber die würden den Verlust wohl gelassen hinnehmen). Aus meinen Freiheitsträumen riss mich eine Szene, die man – wenn mans sehr dramatisch nimmt – als Nahtoderlebnis bezeichnen könnte. Wenn mans etwas weniger dramatisch nimmt, dann war es einfach riesiges Glück in einer Szene, die sich in den Rockies wohl täglich abspielt. Direkt vor mir, geschätzte 20 Meter vom Auto entfernt, stürzte ein ungefähr 1/2 Kubikmeter grosser Felsbrocken auf die Fahrbahn. Ich riss eine Vollbremse (zum ersten Mal zahlte sich Richi’s beharrlich durchgezogenes Bremsprogramm aus) und sass mit rasendem Herzschlag während ein paar Minuten hinter dem Steuer. Der Felsbrocken lag da, direkt vor mir. An der ersten Aufschlagstelle war eine deutliche Delle im Highway zu sehen. Wäre ich nicht mich, sondern jemand anders, dann hätte ich wohl Gott gedankt und mein Leben aus völlig neuer Perspektive betrachtet. Da ich aber mich bin, dachte ich: „Glück gehabt.“ Hinter mir stauten sich langsam die Autos. Einer stieg aus, kam nach vorne und telefonierte mit irgendjemandem. Einer brach aus der Reihe aus und überholte mich. Mit gesenktem Kopf und gedrosselter Geschwindigkeit nahm auch ich die Weiterreise in Angriff. Ich denke heute, dass ich das ganze hätte fotografieren sollen. Vielleicht ergibt sich daraus eine neue Blog-Kategorie: „Pictures I should have taken“. Dieses Bild gehört jedenfalls in diese Sparte. Sollte mir das noch einmal passieren, dann zücke ich die Kamera, Ehrenwort.

Speziell war auch der Moment, als ich um ca. 21 Uhr im Nationalpark ankam (es dunkelt hier ungefähr um 20 Uhr ein, um 21 Uhr ist es stockdunkle Nacht). Ich stieg aus und schaute auf dem Plan nach, wie ich am schnellsten zum Glacier Basin Campground komme. Als ich vor dem Plan stand, klingelte in meinem Auto plötzlich ein Telefon. Mir kamen sofort die beiden Zwillinge und der siebte Stock in den Sinn. Im Nationalpark, vor diesem Plan war ich aber ganz alleine. Kein Licht, kein Lift, kein leerer Gang. Nur dunkle Nacht und ein klingelndes Telefon. Mein Handy hatte ich in der Hosentasche. Ich dachte kurz an die Diskussion, die ich mit Lex auf dem Times Square führte. Es ging darum, ob der Mensch ein Flucht- oder ein Angriffstier sei. Ich wäre wohl ein Fluchttier. Aber wohin flieht man in einem Nationalpark, mitten in der finsteren Nacht? Also ging ich zum „Angriff“ über. Ich stieg ins Auto ein, versuchte, das Klingeln zu lokalisieren (seit „I know what you did last summer“ weiss ich, dass man in solchen Momenten immer zuerst auf die Rückbank schauen muss, doch der Sensemann sass glücklicherweise nicht da) und fand am Rückspiegel ein blinkendes Telefon-Signal. Ich drückte den blinkenden Knopf und sagte laut „Hi“. Es meldete sich eine Männerstimme: „Sir, this is OnStair. Is there an emergency?“ Ich antwortet nein, es sei alles in Ordnung. Der Mann erklärte mir, ich hätte wohl aus Versehen auf die „OnStair“-Taste (die hat es in jedem modernen amerikanischen Auto) gedrückt. Dann würde sich OnStair automatisch melden, das Auto lokalisieren und im Notfall sofort ausrücken. „Just that you know it, OnStair is always there for you. Do not hesitate to call us.“ Ich entschuldigte mich für das Versehen und bedankte mich. Die Amerikaner sind also sogar hier draussen in der Fast-Wildnis und mitten in der Nacht für einen da, freundlich und hilfsbereit, wie gewohnt. Doch, irgendwie ist das schon gut zu wissen. Vor allem als potentielles Fluchttier.

Eine gute Stunde später stand mein Zelt auf meinem zugewiesenen Platz auf dem Glacier Basin Camp Ground. Ich setzte mich an „meinen“ Tisch und öffnete eine kleine Packung Sam’s Rings (hier werden die noch nach Originalrezept gezuckert, nicht wie bei uns, wos sie nur noch in geschmacklosen, enttäuschend langweiligen Light-Versionen gibt).  Ich schaute zufrieden hinauf zum grossen Wagen, knabberte an den Ringen und dachte; irgendwie habe ich mir die verdient.

Zu den Six Pix: 1) Mein Mietauto, das mich bis nach Flagstaff begleiten wird, 2) ein Selbstportrait auf dem Campingplatz, 3) – 6) erste Eindrücke aus dem National Park, auf der morgendlichen Autofahrt ins Visitor Center aufgenommen.

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Eine Antwort zu Heading North, HEADS DOWN!

  1. Gabi schreibt:

    Hallo,

    toller Wagen. Diese „On Air“ Taste ist mir neu. Gabs bei uns 2006 noch nicht. Ist aber sicher praktisch.

    Ich sehe schon, Du siehst wohl auch gerne Horrorfilme. Mir geht es oft genauso wie Dir. In manchen Situationen fallen mir auch oft gewisse Szenen aus Horrorfilmen ein. 😉

    lg Gabi

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