Chicago hat mich auch in meinen beiden vorerst letzten Grossstadttagen vollends begeistert. Das leise Schaudern, das mich jedesmal überkam, wenn ich im siebten Stock des Chicago Hostels aus dem Lift hinaus in den langen Gang trat, wurde langsam zur Gewohnheit. Wer den Film „The Shining“ gesehen hat (der spielt übrigens in Oregon, das mir auf meiner Reise noch bevorsteht), weiss von den beiden weissäugigen Zwillingsmädchen, die in diesen langen Gängen lauern und aufdringlich „come play with us“ flüstern. Diese beiden jungen Damen kamen mir unweigerlich bei jeder Liftfahrt in den siebten Stock in den Sinn. Und jedesmal war ich froh, wenn sich vor mir der leere Gang auftat, ohne Mädchen, ohne Flüstern. In diesem Zusammenhang stellte sich meine filmtechnische Vorbereitung auf das Austauschjahr (ich habe während genau einem Jahr keinen Horrorfilm geschaut) als ziemlich angebracht heraus.
Aber, lassen wir die Zwillinge und den siebten Stock. War ja alles halb so wild. Meinen zweiten Chicago-Tag startete ich erneut im Museums Distrikt, der neben spannenden Ausstellungen und Attraktionen auch einen einzigartigen Ausblick auf die Chicago-Skyline bietet. Ich begann mit einem Besuch im Shedd Aquarium, dem grössten Aquarium Nordamerikas, das neben allen möglichen Fischen, Korallen und Schildkröten auch Delfine und vier Beluga-Wale hält. Mir kamen die langen Diskussionen über Pro und Contra solcher Tierhaltung in den Sinn, die ich auf meinen abendlichen Beizentouren durch die Wale Watch-Distrikte auf der Azoren-Insel-Pico mitverfolgt habe. Ich selbst habe mir zu diesem Thema nie eine feste Meinung gebildet. Soweit ich das beurteilen kann, geht es den Belugas & Co in Chicago so oder so recht gut. Beeindruckt haben mich aber vor allem die wunderschön gestalteten Korallenriffe und die Mangroven-Aquarien, in denen riesige Catfish umherschwammen. Nach dem Abtaucher in die Unterwasserwelt wählte ich die Aussenperspektive und schaute im Adler Planetarium vorbei. Während meinem religionswissenschaftlichen Abstecher im letzten Uni-Semester wuchs mein Interesse am Verhältnis der Astronomie zur Astrologie. Und da das Adler Planetarium zu diesem Themenkomplex einiges zu bieten hatte, war auch dieser Besuch äusserst kurzweilig. Aber, um ehrlich zu sein, am besten gefallen hat mir das Mondgefährt, das sich per Computer durch einen nachgebauten Mondkrater steuern liess. Ich fuhr so lange damit herum, bis mich ein Familienvater freundlich darauf hinwies, dass seine Tochter auch einmal über den Mond kurven möchte. Wie war das noch mal… eben, nur „Beinahe-Erwachsener“.
Nach ausführlichem Skyline-Watching wollte ich auf dem Nachhause-Weg noch im Millenium Park vorbeischauen, auf dem die offenbar grösste Stahlskulptur Amerikas steht. Size obviously matters in den USA. Fast jedes Museum, jeder Aussichtsplattform und jedes Restaurant rühmt sich damit, 7. grösstes, 4. höchste oder 18. bestes im Land zu sein. Zu meiner Überraschung herrschte um die (eben grösste) Stahlskulptur herum sehr viel Betrieb. Auf der Wiese vor der Skulptur (die Skulptur ist etwa so gross wie unser Haus in Villmergen) versammelten sich hunderte picknickende Menschen, es wurden Programme verteilt und Liegestühle aufgestellt. Wie sich herausstellte kam ich gerade rechtzeitig zur Eröffnung des 17. Grant Park Music Festivals (das sinnigerweise aber tatsächlich im Milleniumpark über die Bühne geht). Das Grantpark Orchestra, ein Orchester zusammengestellt aus Profimusikern aus dem ganzen Land, und der dazugehörige Chor brachten Dvoraks Requiem zur Aufführung, auf einer Bühne, die in die Stahlskulptur hineinkonstruiert wurde. (Anm.: ich weiss, dass Dvorak in meiner Schreib-Version all seiner Zusatzzeichen beraubt wurde. Ich kann die entsprechenden Accents und Striche auf der amerikanischen Tastatur meines neuen Eee-PCs aber beim besten Willen nicht finden). Ich kaufte mir an einem Stand eine Käseplatte, ein paar Früchte und Brot, setzte mich hin und lauschte zwei Stunden lang zusammen mit geschätzten 10’000 Menschen dem Requiem. Die wunderschöne Musik, der von der lichterloh funkelnden Skyline Chicagos erleuchtete Nachthimmel und die gedämpft-fröhliche Stimmung um mich herum bescherten mir einen der schönsten Momente meines Lebens. So muss Klassik sein; Open Air, mit tausenden von Zuhörern, die auch mal leise miteinander plaudern dürfen. Wenn in den finalen Sequenzen von Dvoraks Werk sogar kleine Kinder in ihrem Spiel innehalten und gebannt in Richtung der Bühne schauen, dann sagt das – denke ich – mehr über eine musikalische Leistung aus, als es eine Kirche voll klatschender Mitsechziger jemals tun könnte.
Der Abschied von Chicago am nächsten Morgen viel mir schwer. Zum zweiten Mal in meinem noch jungen Austauschjahr hatte ich das Gefühl, zu wenig Zeit für einen bestimmten Ort einberechnet zu haben. Vielleicht ist das gut so. Und vielleicht kann ich daraus etwas für meine weitere Reiseplanung lernen.
Was ich in diesem Eintrag aber eigentlich schreiben wollte: die USA sind riesig! Meine 18-stündige Zugfahrt von Chicago nach Denver, die ich vorwiegend im Lounge-Waggon mit Glasdach verbrachte, hat mir das deutlich gemacht. Nie hätte ich gedacht, wie weit und gross und unendlich die Prärie-Staaten im Zentrum des Landes wirklich sind. Illionois, Iowa, Nebraska und Colorado gleichen sich bis ins Details: es gibt schlicht nichts ausser Felder, Wiesen und Steppenlandschaften (mindestens im näheren Umfeld der Amtrak-Zugstrecke). Es war ein gutes Gefühl, diese Weite hautnah zu erleben. Einmal mehr kann ich den Zug als Transportmittel für USA-Reisende nur empfehlen.
Zu den Six Pix: 1) Schräge Skyline vom Museums District aus betrachtet, 2) & 3) Aufführung von Dvorarks Requiem im Millenium Park, 4) Iowa, 5) Nebraska, 6) Colorado.