Slow, Yanks, Slow!

Mein Zug nach Chicago fährt um vier Uhr Ortszeit von der New Yorker Penn Station los. 19 Stunden Fahrt durch Upstate New York, entlang den grossen Seen und durch das südliche Michigan. Ich bin gespannt auf die Fahrt, auf den Zug und vor allem auf die unglaubliche Weite, die zwischen den beiden Metropolen liegt.

Es fällt mir nach dieser Woche zugegebenermassen nicht ganz leicht, New York hinter mir zu lassen. Das liegt einerseits daran, dass ich die Reise von nun an alleine fortsetzen werde und auf die sehr angenehme Gesellschaft von Lex & Co. verzichten muss. Andererseits – so bilde ich mir ein – ist mir New York mit seinen vielfältigen Stadtquartieren, seinem lebensfrohen und freundlichen Volk und all seinen Gerüchen und Geräuschen fast ein bisschen ans Herz gewachsen. Ich fühlte mich die letzten Tag nicht mehr verloren in den riesigen Menschenmassen, die sich durch den Times Square wälzen. Ich hatte keinen grossen Respekt mehr vor dem verzweigten U-Bahn-System und ich bestellte den Kaffee (ungezuckert und ohne Toppings, natürlich) in meinem Starbucks schon um einiges „cooler“ als noch ganz zu Beginn meines Aufenthalts. Chicago wird mir das Heimweh nach New York nehmen, da bin ich mir sicher. Ich freue mich auf die „Windy City“ und bin gespannt, was sie zu bieten hat.

New York hat sich mir in den beiden letzten Tagen von seiner fast schon schnüsig dörflichen Seite gezeigt. Versteckt zwischen den lauten Strassenschluchten und den viel befahrenen Stadthighways gibt es hier Quartiere, die mit sehr viel Charme und Ruhe locken. Der Hell’s Kitchen Flohmarkt zum Beispiel, auf dem es (im Gegensatz etwa zum Amsterdamer Flohmarkt, auf dem nur Markenartikel und Touristen-Shirts verkauft werden) noch richtige Wühlstände mit alten Gasmasken, tonnenweise Abzeichen, silbernen Teekannen, antiken Kameras, Postkarten und Spielzeugen gibt. Gleich neben Hell’s Kitchen hat uns Kelsey (eine New Yorker Kollegin von Lex‘ Freundin) einen der hiesigen „Co-Ops“ gezeigt: ein umzäuntes Stück Rasen, ca. 20 Quadratmeter gross, umgeben von wildem Gestrüpp und chaotisch bepflanzt mit allerlei Blumen und Kleingewächsen. Für viel Geld kaufen sich die New Yorker in diese Co-Ops (von denen es eine recht grosse Anzahl gibt in der Stadt) ein, um in ihrer Freizeit ein wenig jäten und säen zu können. Eine komische Idee, wenn man sich vor Augen führt, wie viel durchaus fruchtbares Grasland die USA zu bieten haben.

Westlich von Hell’s Kitchen liegen die Chelsea Piers, an denen man entlang flanieren und den Blick hinüber auf New Jersey geniessen kann. Wir kehrten in einem schaukelnden alten Schiff ein, das an den Piers vor Anker liegt und Einblick gewährt ins Leben der Seeleute, die vor einigen Hundert Jahren den Weg hierhin auf sich nahmen und das Projekt Amerika ins Rollen brachten.

Ein verstörendes Erlebnis war das Baseballspiel der New York Yankees gegen die Boston Red Sox, das ich mir gemeinsam mit Lex im Yankee Stadion live ansah. „In Amerika gibt es keinen Sport, nur Entertainment“, hat mir Lex vor dem Spiel erklärt. Dass aber Baseball, der Teamsport Nr.1 hier im gelobten Land, so langweilig sein kann, hätte ich mir im Voraus dennoch nicht vorstellen können. Das Spiel dauerte knapp vier Stunden. Die hochbezahlten Sportler weit unten auf dem Spielfeld hatten Mühe, ihre Wohlstandsbäuche unter den sowieso unsportlich wirkenden Dresses zu verstecken. Ihre Sprints waren halbherzig, vom athletischen Standpunkt aus betrachtet bestenfalls mittelmässig. „Kein Feuer“, stellte Lex bald fest. „En huere Frächheit.“ Trotz der schwachen Vorstellung (das Spiel endete nach neun elend langen Innings 2:1 für die Red Sox, was niemanden wirklich interessierte) war die Masse im praktisch ausverkauften Stadion begeistert. Weniger vom Spiel an sich, als viel mehr von den stupiden Unterhaltungsprogrammen, die von der Stadionleitung beinahe im Minutentakt über riesige Bildschirme aufs Publikum losgestrahlt wurden. Virtuelle Rennen der New Yorker Metro-Züge (sponsored by Subway), peinliche Aufnahmen von gähnenden, sich küssenden oder komisch dreinblickenden Zuschauern, unsinnige Statistiken über die Spieler, Kino-Trailer, Spielzeugwerbung und farbig blinkende Ratespiele zogen die Aufmerksamkeit der knapp 50’000 Zuschauer weit mehr auf sich als die Baseballspieler, die unten auf dem Feld umherstanden. Man erhob sich, um mitten im Spiel die Nationalhymne zu singen, dankte lauthals den Truppen im Irak für ihren Einsatz fürs „home sweet home“, buhte die Bostoner Spieler aus und stopfte sich voll mit Popcorn, Ice Cream, Hotdogs und Burgern, die einem von laut schreienden Stadion-Mitarbeitern an den Platz gebracht wurden.

Amerika hockt in seinen bequemen Mega-Arenen, lässt sich sanft berieseln, verherrlicht sich selbst (die amerikanische Baseball Meisterschaft trägt den stolzen Namen „World Series“; wer gewinnt ist nicht Landesmeister, sondern offizieller „World Champion“) und wagt nicht den Blick über den Stadion-Rand, der die eigene Position sicherlich gewinnbringend relativieren würde. Eine Szene mit Symbolcharakter? Ich hoffe es nicht. Und jetzt ab nach Chicago…

Zu den Six Pix: 1) & 2) Auf dem Hell’s Kitchen Flohmarkt in Chelsea, 3) die stilvoll heruntergekommene Bar in einem Schiffsbauch an den Chelsea Piers, 4) & 5) „unser“ Karikaturist am Times Square, 6) der Blick vom Empire State Building.


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Eine Antwort zu Slow, Yanks, Slow!

  1. Ursula schreibt:

    Hoi Samuel
    habe soeben deinen Reisebericht gelesen. Total mega gut! Bin aber nur drauf gekommen, da Julia ihre Koordinaten mitgeteilt hat und ich dort auf dich gestossen bin. Super, dass du so gut über dem Teich angekommen bist. Diese Woche haben wir das Hochzeitsfotobuch von myphotobook erhalten. Es ist wirklich ganz toll geworden. Werde mal schauen, ob ich dir den Link schicken kann, damit du es im Internet anschauen kannst.
    Am Montag hat die Schule wieder begonnen. Am neuen Ort, mit neuen Kids, neuen Lehrpersonen, aber es kommt immer besser und macht eine menge Spass.
    Ich freue mich, wieder von deinen Erlebnissen zu lesen und wünsche dir toi toi toi
    Liebe Grüsse
    Ursula

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